Kultur

Darf ich vorstellen? Umarell

Außerhalb Italiens werden die meisten diesen Begriff noch nie gehört haben. Sobald man aber den neuen Zingarelli (Wörterbuch der italienischen Sprache) zur Hand nimmt und sich die unter dem Neologismus „umarell“ eingetragene Definition durchliest, weiß man sofort wer gemeint ist: „Ein an Baustellen herumtigernder Rentner, meist mit den Händen auf dem Rücken, der kontrolliert, Fragen stellt, Empfehlungen gibt und die dort stattfindenden Arbeiten kritisiert.“ Das Wort ist dem bolognesischen Dialekt zuzuschreiben und stammt vom Italienischen „omarello“/„ometto“ (Männchen).

Ein älterer Herr mit verschränkten Armen hinter dem Rücken steht an einer großen Baustelle an der Piazza Nettuno in Bologna und beobachtet die Arbeiten.
Copyright: @elixbo

Soziale Zusammenkunft

Die vielleicht naheliegendste und wohl auch amüsanteste Begründung dafür, dass diese Rentner so viel Zeit an Baustellen verbringen, ist sicherlich die der hantigen Ehefrau. Ist der Mann erst außer Haus, kann sie schalten und walten wie sie möchte. Gleichzeitig hat auch er seine Ruhe. Doch so einfach ist das natürlich nicht, denn die Existenz der Baustellen-Rentner dient einem übergeordneten Zweck, ganz im Sinne des Gemeinwohls. Hilfreiche Ratschläge zum ordnungsgemäßen Vollzug der Bauarbeiten – gefragt oder ungefragt, am liebsten in der Gruppe. Angenehmer Nebeneffekt bzw. eigentlicher Grund der Versammlung: Gemeinschaft. Denn Italien wäre nicht Italien, wenn es nicht immer um eine Form der sozialen Zusammenkunft, des Austauschs sowie um ein kleines bisschen Schauspiel ginge.

Fünf Senioren stehen am Rande einer Baugrube und sehen hinein. Einer in der berühmten Pose des Umarell mit den Händen auf dem Rücken, drei mit den Händen in den Hosentaschen, einer rauchend.
Quelle: umarells.wordpress.com

Ein Platz in der Gesellschaft

Die sinnstiftende, dem Gemeinwohl ernsthaft zuträgliche Funktion der Umarells (so der offizielle Plural dieses Begriffs) haben in Italien auch diverse Kommunen und Unternehmen erkannt. In Riccione wurde beispielsweise eine Senioren-Kooperative gegen Honorar damit beauftragt, die vorschriftsmäßigen Abläufe auf einer städtischen Baustelle zu kontrollieren.

Alessio Sarra, ein Immobilienunternehmer aus Pescara, widmete sich den Umarells auf eine ganz besonders wertschätzende Art und Weise: Er ließ an seinen Baustellen Fenster anbringen, damit die interessierten Rentner die Bauarbeiten sicher und entspannt verfolgen können. Neben der unzweifelhaft hohen Werbewirksamkeit bringt er damit seinen Respekt einer ganzen Generation entgegen, welche speziell zu Zeiten der Pandemie besonders einsam ist. „Ein Tribut an die Rentner, Ressource des Stadtviertels“, ist unter dem Fenster zu lesen, wo die Senioren explizit dazu eingeladen werden, die Bauarbeiten zu verfolgen. Gleichgesinnte in Rot, Blau oder Schwarz warten bereits auf Gesellschaft.

Ein Senior mit einem Stock und Hut blickt durch das Fenster an der Baustelle TJIKKO in Pescara.
Eine Baustelle von Sarra Immobilien. Eingezäunt von einer Wand mit Fenster und einem blau gezeichneten Umarell mit Enkel, die die Bauarbeiten durch das Fenster beobachteen.
Copyright und Urheberrecht: Alessio Sarra
Eine Baustelle von Sarra Immobilien. Eingezäunt von einer Wand mit Fenster und einem rot gezeichneten Umarell, der die Bauarbeiten durch das Fenster beobachtet.

Wertschätzung und Zuwendung

Das Alter als eine der Kerndimensionen von Diversität. Hier erleben wir auf äußerst kreative und liebevolle Art und Weise, wie den älteren bis betagten Menschen unter uns gesellschaftliches Gewicht verliehen werden kann. Genauso sehr wie sie uns brauchen, brauchen wir sie. Das haben die Ereignisse in Bergamo und Umgebung vergangenes Jahr der Welt schmerzvoll vor Augen geführt. Als die Region einen großen Teil seiner Menschen aus genau dieser sie so tragenden Generation verloren hat.

So ist es doch nur gut und richtig, diese sympathischen Rentner nicht nur mit einem Eintrag im Wörterbuch zu bedenken, sondern ihnen einen würdevollen und ehrlichen Platz in unserer Gesellschaft einzuräumen. Zu verdanken ist dies vor allem dem aus Bologna stammenden Blogger und Kulturanimator Danilo Masotti. Er beschrieb die Umarells mit ihren typischen Zügen zum ersten Mal und machte sie durch die sozialen Medien zur Kultfigur. Immer mit einem liebevollen Augenzwinkern – typisch italienisch und für mich eine der feinsinnigsten Formen von Respekt und Zuwendung.

Während des ersten Lockdowns schrieb der mailändische Cantautore Fabio Concato das Lied „L’Umarell“. Ein Dialog zwischen einem imaginären Pensionär und dem Liedermacher selbst, der – neben dem Respekt, den es für die Alten wiederzugewinnen gilt – auf eine weitere gesellschaftliche Gruppe „Verwundbarer“ aufmerksam machen soll. Auf die Künstler und Musiker, die seit Monaten keine Einnahmen mehr haben. Dabei ist es doch gerade die Musik, die uns in Zeiten großer Unsicherheit bestärkt und uns die Kraft zum Weitermachen gibt. Müssen wir wirklich erst etwas verlieren, um seinen Wert zu schätzen?

Fabio Concato – L’Umarell (mit englischem Untertitel)


Mehr zu den genannten Personen:

Den Immobilienunternehmer Alessio Sarra findet ihr hier auf seiner Facebookseite und auf Instagram @sarra.immobiliare. In diesem Blogartikel werbe ich nicht für dieses Unternehmen, aber ich bedanke mich ganz herzlich für den netten Kontakt und für die Bereitstellung der Fotos!
Den Blogger und Kulturanimator Danilo Masotti und seine Umarells findet ihr hier auf seiner Facebookseite und auf Instagram @umarells.
Und auch der Liedermacher Fabio Concato ist hier auf Facebook und auf Instagram @fabioconcatoofficial zu finden.


Die Wortschöpfung „petaloso“ hat es zwar nicht zu einem Eintrag ins das Wörterbuch der italienischen Sprache geschafft, die Geschichte dazu ist aber umso netter!