Die gottini der 50er-Jahre
Lorenzo Curradi sitzt im Publikum und verfolgt mit großer Aufmerksamkeit die Präsentation über unsere Kulturvereinigung. Am Ende steht er auf und kommt auf mich zu. Er habe Kindheitserinnerungen, von denen er mir gerne erzählen würde …
Wir befinden uns in der Mitte der 50er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Ich bin sechs oder sieben Jahre alt und wohne in der Via dei Fossi n. 1. Ich warte darauf, dass mich mein Opa abholt und wir zu ihm nach Hause gehen. Er wohnt wenige hundert Meter entfernt, in der Via Santa Monaca, auf der anderen Seite des Arno. Und da ist Nonno Turiddu!
Trotz des für den Süden Italiens typischen Vornamens Turiddu war Opa nicht etwa Sizilianer, sondern wurde 1892 im östlich von Florenz gelegenen Empoli geboren. Zwei Jahre zuvor hatte Pietro Mascagni die Cavalleria Rusticana (Sizilianische Bauernehre) komponiert, deren Hauptfigur Turiddu hieß. Die Oper war ein überwältigender Erfolg und so gaben zu dieser Zeit viele Eltern ihren Kindern diesen gewichtigen Namen.
Was erleben Sie zusammen mit Nonno Turiddu?
Mein Opa nimmt mich bei der Hand, wir überqueren die Ponte alla Carraia, die nach ihrer Zerstörung im Krieg gerade erst wieder aufgebaut wurde, und bewegen uns in die Via dei Serragli. Auf dem Bürgersteig sehe ich eine Gruppe Menschen, alle mit einem Glas Wein in der Hand. Sie stehen vor einem Fenster, aus dem mit Rotwein gefüllte Gläser gereicht werden. Opa nimmt sein Portemonnaie, zieht ein Geldstück heraus, legt es auf den Vorsprung des Fensterchens, nimmt das Glas Wein und trinkt es ganz entspannt aus. Danach stellt er das Weinglas zurück und wir laufen noch ein kurzes Stück bis wir zu Hause ankommen. Oma erwartet uns schon, nichts ahnend, dass ihr Ehemann bereits in den Genuss seiner täglichen Dosis Wein gekommen ist!
Eine ganz besondere Erinnerung! Im ersten Abschnitt der Via dei Serragli, zwischen Arno und der Via Santa Monaca gibt es vier wunderschöne Weinlöcher. Möglicherweise sprechen wir von jenem unter der Nr. 8, das zur Cantina Magnani gehörte, deren Inschrift noch heute vorhanden ist und in Richtung Borgo Stella zeigt.
Diese Erinnerung hilft uns zu verstehen, welche Aufgabe die Weinlöcher zu dieser Zeit hatten. Sie dienten dem Ausschank von Rotwein (zumindest habe ich immer nur Rotwein gesehen): in gottini genannte Ausschankgläser, die etwas kleiner als die klassischen gotti waren.
Wie ging der Ausschank vonstatten?
Der Ausschank mit diesen gottini war sehr unpersönlich. Zwischen Kellermeister und Kunde wurden nicht groß Höflichkeiten ausgetauscht. Es war fast wie am Fließband: Das Geld wurde auf den Vorsprung des Fensterchens gelegt, die Hand des Kellermeisters tauchte auf, nahm das Geld und stellte das volle Glas hin. Nachdem es ausgetrunken war, wurde es wieder hereingeholt. Der Kunde sah dem Kellermeister nicht einmal in die Augen, da die Öffnung dafür zu tief angebracht war. Nur ich konnte ihn gut sehen, weil sie auf meiner Höhe war! Ich erinnere mich sehr gut an den Kellermeister in der Via dei Serragli. Er hatte eine runde Brille, einen Mittelscheitel, eine Weste und ein Hemd ohne Kragen: eine strenge Erscheinung, die mir Angst machte!
Also gab es in den 50er-Jahren Gläser, aber keine fiaschi (Strohflaschen)?
Ich kann mich nicht erinnern, ob neben den gottini auch fiaschi durch das Weinloch gereicht wurden. Ausschließen kann ich es nicht. Jedenfalls war das Weinloch in der Via dei Serragli nicht das einzig aktive. Ich erinnere mich, noch weitere gesehen zu haben, in der Gegend der Via delle Belle Donne.
An der Ecke von Via delle Belle Donne und Via della Spada befindet sich beispielsweise das wunderschöne und berühmte Weinloch mit der Hinweisplatte auf seine Öffnungszeiten.
Jahrhundertelang dienten sie dem Handel und Ausschank von lokalem Wein. Mit den Weinlöchern, an die ich mich erinnere endete diese Tradition. Sie waren wohl die letzten, die geschlossen wurden.
Gut möglich! Bis sie heuer, nach fast 60 Jahren wieder eröffneten, ohne Ansteckungsgefahr.
Ihre Erinnerungen sind sehr wertvoll und helfen uns, eine Vorstellung davon zu bekommen, wann die Fensterchen in unserer Stadt ihren Dienst aufgegeben haben. Danke Lorenzo, dass Sie diese wunderbare Erinnerung mit uns geteilt haben!
Niemand kann uns die Tradition der Weinfenster besser näher bringen als die Zeitzeugen selbst. Hier geht es zu den Erinnerungen des Marchese Bernardo Gondi.
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